Heute möchte ich Ihnen einen sehr interessanten Begriff aus dem Völkerstrafrecht vorstellen, auf den ich im Zusammenhang mit der Übersetzung von Auszügen aus einem Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien („UN-Kriegsverbrechertribunal“) gestoßen bin.
Es handelt sich um den Begriff:
Joint Criminal Enterprise (JCE)
Im Deutschen kann man dies mit „gemeinschaftliche kriminelle Unternehmung” wiedergeben. Ins Spanische lässt es sich mit “empresa criminal conjunta” übersetzen. In jedem Fall aber sollte man die ausgangssprachliche Bezeichnung „joint criminal enterprise“ auf irgendeine Weise in die Übersetzung einbeziehen, sei es in Klammern hinter der Übersetzung, als Fußnote oder aber indem man die englische Bezeichnung stehenlässt und sie lediglich durch eine nachfolgende Klammer mit „annähernde Übersetzung…“ ergänzt. Welche Lösung sich anbietet, hängt natürlich von den üblichen Faktoren (Textsorte, intendierter Zielleser, Zweck der Übersetzung) ab.
Den Begriff des „joint criminal enterprise“ hier erschöpfend behandeln zu wollen, wäre ein völlig aussichtsloses Unterfangen, ist er doch Gegenstand zahlreicher komplexer und kontrovers geführter juristischer Debatten und umfangreicher rechtswissenschaftlicher Abhandlungen.
Die Rechtsfigur des JCE kommt ursprünglich aus dem englischen Common Law. Sie dient dazu, individuelle Verantwortlichkeit bei gemeinsam begangenen Verbrechen zuzurechnen. Ins Rampenlicht der Öffentlichkeit ist das Konzept in jüngerer Zeit dadurch gerückt, dass sie vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien eingesetzt wird. Vereinfacht ausgedrückt wird mit diesem „völkerrechtlichen Haftungsmodell“ jedes Mitglied eines „gemeinschaftlichen kriminellen Unternehmens“, also einer Straftat, die nicht von Einzeltätern, sondern einer Gruppe von Personen mit einem gemeinsamen Tatplan und einem gemeinsamen Tatziel verübt wird, als individuell verantwortlich betrachtet. Als anschauliches Beispiel wird hier immer wieder ein Banküberfall beschrieben, der von drei Personen gemeinschaftlich geplant und begangen wird. Erschießt einer der drei Bankräuber im Verlauf des Überfalls einen Menschen, so haben sich nach dem JCE-Modell alle drei des Mordes schuldig gemacht.
Gerade im Bereich des Völkerstrafrechts, in dem es häufig um Straftaten geht, die kaum von Einzeltätern, sondern nur von Kollektiven begangen werden können (wie z. B. Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit), bietet sich dieses Modell durchaus an, um den hier häufig bestehenden Aufklärungs- und Beweisproblemen zu begegnen. Offenbar wurde das Prinzip daher auch bereits in früherer völkerstrafrechtlicher Rechtsprechung anerkannt, insbesondere bei den Nürnberger Prozessen. Zu diesem Ergebnis kommen jedenfalls wissenschaftliche Untersuchungen. Dennoch ist das Modell nicht unumstritten, da man zum Teil Verstöße gegen allgemeine Rechtsgrundsätze (z. B. „In dubio pro reo“) sieht.
Aber die Frage strafrechtlicher Zurechnung bei kollektiv begangenen Straftaten stellt sich ja nicht nur im Völkerstrafrecht, wie das Beispiel des Bankraubs zeigt. Wie gehen unterschiedliche nationale Rechtsordnungen damit um? Da das JCE, wie bereits erwähnt, seinen Ursprung im englischen Common Law hat, verwundert es wenig, dass die Rechtsordnungen des angloamerikanischen Rechtskreises meist mit “legal doctrines” arbeiten, die dem JCE sehr ähnlich sind und ebenfalls auf einem „gemeinsamen Tatplan“ und einem „gemeinsamen Tatziel“ basieren.
In kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen wie dem deutschen Recht stößt man auf die Rechtsfigur der „Mittäterschaft“. Auch bestimmte Straftatbestände wie die Bildung krimineller oder terroristischer Vereinigungen rücken ins Blickfeld, wenn man sich mit dem juristischen Umgang von Problemen bei der Aufklärung und dem Nachweis von Schuld im Zusammenhang mit Kollektivstraftaten befasst.
Von einer Gleichsetzung von „joint criminal enterprise“ mit „Mittäterschaft“ oder „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ muss aber aufs Schärfste gewarnt werden. Als Übersetzung der Rechtsfigur des „joint criminal enterprise“ sollten nur die oben gewählte Formulierung „gemeinschaftliche kriminelle Vereinigung“ oder ähnliche an den englischsprachigen Ausgangsbegriff angelehnte Konstruktionen gewählt werden, um falsche Analogieschlüsse zu vermeiden. Nur so wird dem Leser der Übersetzung deutlich gemacht, dass es sich um ein ganz eigenes Konzept handelt, das es im deutschen Rechtssystem so nicht gibt.
Gerade am Beispiel des „joint criminal enterprise“ lässt sich sehr schön verdeutlichen, dass die Übersetzung juristischer Fachtexte manchmal ein gewisses Maß an Rechtsvergleichung erfordert, um bestimmte Konzepte und Formulierungen besser verstehen und geeignete Lösungsstrategien wählen zu können. Von der Gleichsetzung von Rechtsfiguren, Konzepten, Tatbeständen, Institutionen etc. einer Rechtsordnung mit denen eines anderen Rechtssystems aber ist in aller Regel Abstand zu nehmen ist. Besser ist es, eine am ausgangssprachlichen Begriff orientierte Formulierung zu wählen, die in der zielsprachlichen Rechtsordnung nicht existiert, auch wenn diese „künstlich und konstruiert“ klingt. Wo angebracht, kann diese Formulierung durch eine kurze Erklärung oder einen Verweis ergänzt werden, wie oben beschrieben. Gerade weniger erfahrene und weniger juristisch vorgebildete Übersetzer neigen manchmal dazu, den Leser auf falsche Fährten zu locken, weil sie glauben, eine Analogie entdeckt zu haben, die aber so nicht existiert.
Noch etwas anderes wird an diesem Beispiel wieder deutlich: Übersetzer juristischer Texte müssen nicht unbedingt ein komplettes Jurastudium absolviert haben. Einen Überblick über die Rechtsordnungen der Länder, in denen ihre Arbeitssprachen gesprochen werden und und ein Grundverständnis juristischer Konzepte, Methoden und Fragestellungen sollten sie aber unbedingt mitbringen. Die notwendige Sensibilisierung für die Probleme, die bei der Übersetzung juristischer Texte auftauchen, kommt dann von alleine.